- Menschenrechte: Von kollektiven und individuellen Rechten
- Menschenrechte: Von kollektiven und individuellen RechtenDie Idee der Menschenrechte ist uralt und lässt sich im europäischen Kulturkreis bis zur griechischen Philosophie zurückverfolgen. Doch erst im 18. Jahrhundert wurden, wenngleich nur vereinzelt, die Menschenrechte in feierlichen Erklärungen, Gesetzen und Staatsverfassungen ausdrücklich proklamiert. Es sollte aber noch bis zum 20. Jahrhundert dauern, dass die »Positivierung« der Menschenrechte, das heißt ihre Einbindung in geltendes Recht, weltweit als Aufgabe der Rechtssetzung erkannt worden ist. Nicht einmal die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündete »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« konnte bindende Wirkung entfalten. Erst die beiden 1976 in Kraft getretenen Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, denen bis heute 135 Staaten beigetreten sind, verpflichteten die Signatarstaaten völkerrechtlich zur Beachtung der Menschenrechte.Für die Geschichtswissenschaft stellt sich die Frage, ob im 18. Jahrhundert der erste Schritt vom Gedanken zur Tat gewagt und damit ein Weg beschritten worden ist, der am Ende des 20. Jahrhunderts zur globalen Verwirklichung der Menschenrechte, wenigstens aber zur weltweiten Forderung nach ihrer Verwirklichung, führt. Nicht nur die Skepsis gegenüber der Vorstellung von scheinbar geradlinigen historischen Entwicklungen verbietet es, diese Frage vorschnell zu bejahen. Vielmehr sind die Ereignisse des 18. Jahrhunderts unterschiedlicher Deutung fähig, sie haben eine lange Vorgeschichte und wirkten in den einzelnen Ländern durchaus verschieden. Zudem gilt, dass Rechtsgeschichte und politische Geschichte stets zweigleisig laufen. Die eine Spur ist die Ideengeschichte, die andere ist die Institutionengeschichte, wobei sich die Ideen der Philosophen und Rechtsgelehrten immer erst später in politischen Institutionen, Gesetzen und anderen Rechtsinstrumenten auswirken. Bei der Geschichte der Menschenrechte lassen sich Ideengeschichte und Institutionengeschichte jedoch nicht in dieser Weise voneinander trennen. Theoretische Begründung und praktische Realisierung der Menschenrechte sind so stark abhängig von der Einstellung zu den Grundfragen der individuellen menschlichen Existenz und der menschlichen Gemeinschaften, dass in jeder Kultur, in der ein geistiger Pluralismus möglich war, gleichzeitig verschiedene theoretische Begründungen der Menschenrechte aufgestellt wurden, von denen nur selten eine als die prägende Kraft einer gesamten Epoche angesehen werden kann.Mit Recht begnügen sich die Historiker daher in der Regel damit, den Gedanken der Menschenrechte in den verschiedenen Kulturepochen aufzuspüren und in der vorhandenen Mannigfaltigkeit die Haupttendenzen herauszustellen, mit deren Hilfe dann die betreffende Epoche charakterisiert wird. Nur selten lassen sich solche Haupttendenzen zugleich als prägende Kraft von Institutionen nachweisen. Während die Idee des Rechtsstaats, der Glaube an einen Gott oder der soziale Gedanke sich in mächtigen Institutionen manifestieren — Justizapparat, Kirche, Wohlfahrtsorganisationen und Sozialgesetzgebung —, verbirgt sich die Idee der Menschenrechte fast immer hinter Rechtsinstrumenten, politischen Leitsätzen und Handlungsmotiven, die innerhalb der vorhandenen Institutionen wirken. Erst spät in der Geschichte der Menschheit, nämlich in den geschriebenen Verfassungen seit dem 18. Jahrhundert und in den modernsten Tendenzen des Völkerrechts im 20. Jahrhundert, lässt sich eine Institutionalisierung der Menschenrechte erkennen. Doch auch für frühere Zeiten kann die Geschichte der Menschenrechte nicht nur als eine Geschichte unverbindlicher philosophischer Prinzipien, gar utopischer Träumereien beschrieben werden; bereits vor dem 18. Jahrhundert gab es politisch Handelnde, die von der Idee der Menschenrechte motiviert waren.Souveränität und Völkerrecht im Spannungsverhältnis zu MenschenrechtenIn der politischen Geschichte finden wir die große Wegmarke der Neuzeit nicht im 18., sondern bereits im 17. Jahrhundert: Gemeint ist der Westfälische Frieden von 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg beendet wurde. Er markiert einerseits den Abschluss der bedeutendsten Entwicklung im europäischen Staatsdenken, andererseits den Beginn der Wirkungsgeschichte des Völkerrechts, das in seiner ersten Phase von 1648 bis 1918 die Bezeichnung »klassisches Völkerrecht« erhielt. Obwohl die beiden Entwicklungen verschiedene Ebenen betreffen, ist ihr historisches Zusammentreffen im Westfälischen Frieden nicht zufällig. Im staatsrechtlichen wie im völkerrechtlichen Bereich liegt die Bedeutung dieses Friedensschlusses, an dem alle europäischen Großmächte beteiligt waren, darin, dass die Souveränität endgültig als Rechtsbegriff etabliert wurde. Zwar war sie schon früher von Staatsphilosophen erörtert und von Landesherren gefordert worden, aber solange in der Institution des Heiligen Römischen Reiches noch ein Widerschein der Einheit des christlichen Abendlandes existierte, konnte die juristische These aufrechterhalten werden, dass Kaiser und Papst als Garanten des universellen Friedens über den lokalen Herrschern standen. In Wirklichkeit war die Einheit des christlichen Abendlandes — nicht nur infolge der Reformation — längst zerbrochen. Der Westfälische Frieden trug daher den Realitäten Rechnung, wenn er die als Kampfruf gegen Kaiser und Papst gedachte spätmittelalterliche Losung vom »Fürsten, der keinen Höheren über sich anerkennt« zum Rechtsgrundsatz erhob und in den Mittelpunkt der nunmehr entstehenden Staatenordnung stellte.Die Souveränität war zunächst eine rechtliche Eigenschaft des Fürsten, der sein Land frei von Fremdbestimmung regieren durfte. Die Französische Revolution, die sich gegen die Fürsten als Souveräne richtete, beseitigte nicht deren wichtigstes Rechtsinstrument, sondern formte es um: Die Fürstensouveränität wandelte sich im Innern zur Volkssouveränität, nach außen hin zur Staatensouveränität. Für den Verkehr zwischen den souveränen Staaten wurde eine neue Rechtsordnung errichtet, die den Namen »Völkerrecht« erhielt. Von Anfang an war dieses Völkerrecht kein Recht der Völker, sondern ein Recht der Souveräne bzw. souveräner Staaten. Dabei ist es trotz der Fortschritte, die der internationale Menschenrechtsschutz im 20. Jahrhundert erzielt hat, grundsätzlich geblieben. Wenn auch seit dem Ende der Periode des klassischen Völkerrechts die Staaten aufgrund internationaler Vereinbarungen in zunehmendem Maße Souveränitätsrechte an zwischenstaatliche oder überstaatliche Einrichtungen abgegeben haben, wodurch ihre Souveränität zurückgedrängt und inhaltlich geschwächt wurde, hat jedoch der internationale Menschenrechtsschutz die Souveränitätsschwelle noch immer nicht überwunden. In der gesamten Epoche des klassischen Völkerrechts wurde auch nicht der geringste Versuch unternommen, sie zu überwinden.Das gilt insbesondere für diejenige Phase der Staatengeschichte, die als Absolutismus bezeichnet wird. Sie leitet ihren Namen von dem Grundsatz ab, dass der souveräne Fürst »von den Gesetzen losgelöst« herrscht. Diese Phase reichte vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution, außerhalb Frankreichs dauerte sie noch länger an. Im deutschsprachigen Raum begann eine neue verfassungsgeschichtliche Epoche, nämlich die der konstitutionellen Monarchie, erst im 2. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Ihre Anfangsphase hat die Bezeichnung »Frühkonstitutionalismus« erhalten. Die damals vor allem in den süddeutschen Staaten in Kraft getretenen geschriebenen Verfassungen können als zaghafte Versuche gewertet werden, einige Menschenrechte im innerstaatlichen Bereich rechtlich abzusichern. An einen internationalen Menschenrechtsschutz war nicht zu denken. Eine gewisse Ausnahme bildeten die Bestimmungen zugunsten religiöser Minderheiten in den mit Gebietsabtretungen verknüpften Friedensverträgen nach dem Westfälischen Frieden. Den Übergang zu einem nationalen Minderheitenschutz kann man in Artikel 2 der Wiener Kongressakte von 1815 sehen, der Schutzbestimmungen zugunsten der in Russland, Österreich und Preußen lebenden Teile des polnischen Volkes enthielt. Aber auch dieser Ansatz wurde während des 19. Jahrhunderts auf völkerrechtlicher Ebene nicht weiter verfolgt.Ein wirksamer internationaler Menschenrechtsschutz ist unmöglich, solange die Souveränität der zentrale Rechtsbegriff des Völkerrechts ist. Denn Souveräne und souveräne Staaten lassen sich nicht vorschreiben, wie sie ihre eigenen Untertanen oder Staatsangehörigen zu behandeln haben. So übte der Rechtsbegriff der Souveränität nach außen wie nach innen eine hemmende Wirkung auf die Entfaltung der Menschenrechtsidee und ihre Verwirklichung in der Praxis aus. Nach außen hin bewahrte das aus der Souveränität abgeleitete Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten den souveränen Staat vor jeglicher Kontrolle über die Einhaltung der von den Philosophen geforderten Menschenrechte. Im Innern erstickte die Theorie des Gottesgnadentums, auf das sich die Herrschergewalt des Souveräns stützte, jeden Gedanken an die Verbriefung von Menschenrechten, die aus einer über dem Souverän stehenden Rechtsquelle abgeleitet wurden. Die von Staatsrechtlern des Absolutismus entwickelte Patrimonialtheorie betrachtete den Staat als »väterliches Erbe« (patrimonium) des Souveräns. Die Verfügungsgewalt des Souveräns über das Staatsgebiet stand im Mittelpunkt der gesamten Staatstheorie. Die Bevölkerung des Staatsgebiets wurde nur als Pertinenz, das heißt als Zubehör betrachtet. Diese juristische Konstruktion erklärt die Selbstverständlichkeit, mit der ganzen Provinzen in Staatsverträgen abgetreten oder getauscht, Prinzessinnen als Heiratsgut mitgegeben oder in Testamenten als Teil des Nachlasses behandelt wurden. Im 20. Jahrhundert kommentierten Historiker und Soziologen, die sich mit der Entstehung der europäischen Nationalstaaten beschäftigten, spöttisch, die Staaten seien in Wirklichkeit zusammengeheiratet, -geerbt oder -geraubt worden. In der Tat ermöglichte das klassische Völkerrecht den legalen Gebietserwerb auch auf der Grundlage kriegerischer Eroberung.Die Behandlung der auf dem Staatsgebiet lebenden Menschen als Zubehör des Gebiets erscheint auf den ersten Blick als unmenschlich. Sie schützte aber die Menschen in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts und in den beiden darauf folgenden Jahrhunderten vor einer Grausamkeit, die ausgerechnet im 20. Jahrhundert mit seinen hochtönenden Lippenbekenntnissen zu den Menschenrechten ungeheure Ausmaße annahm, nämlich vor der Vertreibung. Während der Epoche des klassischen Völkerrechts war es für einen Staat undenkbar, Gebiete zu erwerben, ohne die darauf lebende Bevölkerung mit zu übernehmen. Privatrechtliche Rechtspositionen wurden durch den Gebietsübergang nicht berührt. Es fand lediglich ein Obrigkeitswechsel statt. Als im 19. Jahrhundert das Untertanenverhältnis vom Status der Staatsangehörigkeit abgelöst wurde, entstand das Problem des Staatsangehörigkeitswechsels. Es gehört zu den eindrucksvollsten Tatsachen der Rechtsgeschichte, dass gleichzeitig mit dem Entstehen der Staatsangehörigkeit auch das Rechtsinstrument der Option geschaffen wurde, nach dem die von einem Gebietswechsel betroffenen Einzelpersonen frei entscheiden konnten, ob sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit beibehalten oder ablegen wollten. Die nachabsolutistische Staatstheorie fand ihre bis heute gültige Formulierung erst im späten 19. Jahrhundert. Es ist die Drei-Elemente-Lehre, die das geltende Völkerrecht noch immer für die Bestimmung der Staatsqualität verwendet. Danach besteht der Staat aus drei konstitutiven Begriffselementen: Volk, Gebiet und Staatsgewalt. Die Staats- und Völkerrechtstheorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts präsentiert sich somit weiterhin als Ausdruck des territorialstaatlichen Denkens, das sich zu Beginn der Neuzeit durchsetzte und den modernen Staatsbegriff hervorbrachte.Vom mittelalterlichen Herrschaftsverband zum modernen StaatNeben der Durchsetzung des Rechtsbegriffs der Souveränität markiert der Übergang vom personenverbandsrechtlichen Denken des Mittelalters zum territorialstaatlichen Denken der Neuzeit den entscheidenden epochalen Wandel in der Organisation von Herrschaftsverbänden, der nicht nur den modernen Staat formte, sondern auch den Platz des Einzelnen in ihm bestimmte und damit die Entfaltung der Menschenrechte jahrhundertelang behinderte. Diese erst in der Rückschau gewonnene Erkenntnis will nicht besagen, dass es im Mittelalter um den Menschenrechtsschutz besser gestellt gewesen wäre als in der Neuzeit. Eher könnte das Gegenteil behauptet werden. Zwar hatte sich bereits im Altertum die griechische Philosophie mit dem Schicksal des Menschen und seinen natürlichen Rechten beschäftigt, im 2. Jahrhundert sprach der große römische Jurist Gaius vom »gemeinsamen Recht aller Menschen«, und das Christentum postulierte die Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen. Aber in die Institutionengeschichte drangen diese philosophischen und religiösen Überlegungen nicht ein. So blieb zum Beispiel die Institution der Sklaverei nicht nur während des gesamten Altertums, sondern auch noch viele Jahrhunderte hindurch in christlicher Zeit erhalten; ihre Bedeutung nahm sogar seit der frühen Neuzeit wieder zu.In Europa bestimmte das personenverbandsrechtliche Denken etwa in der Zeit vom 8. bis zum 15. Jahrhundert das Zusammenleben der Menschen. Es fand seinen Ausdruck im Lehnswesen, das keine durchgehende Befehlsstruktur von der Herrschaftsspitze bis zur Basis kannte, sondern auf persönlichen, gegenseitigen Treueverhältnissen zwischen Lehnsherrn und Lehnsmann beruhte. Durch die Weitergabe von Lehen ergab sich eine aus zahlreichen Schichten zusammengesetzte »Lehenspyramide«, an deren Spitze der König als oberster Lehnsherr stand. Auf der untersten Ebene dieses engen Geflechts persönlicher Rechtsverhältnisse ist die bäuerliche Bevölkerung anzusiedeln, die das agrarische Fundament des gesamten Lehnswesens bildete. Auch der mittelalterliche Herrschaftsverband, der aufgrund seiner wesensmäßigen Verschiedenheit vom modernen Staat nur mit großen Vorbehalten als Staat bezeichnet werden kann, verfügte über ein Territorium, auf dem Menschen lebten und sich durch Ackerbau, Viehzucht, Jagd und andere forstwirtschaftliche Nutzung ernährten. Aber dieses Territorium gehörte nicht zu den konstitutiven Merkmalen des Herrschaftsverbandes, wodurch sich der Personenverband des Mittelalters vom modernen »Flächenstaat« unterscheidet. Die Hinwendung zum territorialstaatlichen Denken hatte indes bereits im Spätmittelalter begonnen. Zu Beginn der Neuzeit waren aus Lehnsherren längst Landesherren (domini terrae) geworden. Neben der Rezeption des römischen Rechts bildete vor allem der Abschluss dieser Entwicklung eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Herausbildung des modernen Staates.Die Politikwissenschaft betrachtet den modernen Staat zwischen 1650 und 1850 als einen Machtapparat, zu dem Beamtentum und Militär als wesentliche Teile gehören. Diese Auffassung spiegelt unausgesprochen Vorstellungen wider, die bereits im Bild des Staates als Maschine, das aus dem 18. Jahrhundert stammt, enthalten sind. Die Maschine symbolisierte damals noch nicht das Energiepotenzial des Industriezeitalters; vielmehr war sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts kaum mehr als eine Spielerei, die in Gelehrtenstuben und Mechanikerwerkstätten zu finden war. Der Vergleich des Staates mit einer Maschine sollte zum Ausdruck bringen, dass die Staatsgeschäfte reibungslos, steuerbar und nach Programm abliefen. Aber bald erwies sich der viel tiefere Wahrheitsgehalt dieses Vergleichs. Der in der Zeit des Absolutismus perfektionierte Staat glich auch deshalb einer Maschine, weil er die einzelnen Menschen zu winzigen Teilchen in einem gewaltigen Räderwerk degradierte, das vom Hebeldruck des Monarchen gesteuert wurde. Als im 19. Jahrhundert die Maschine zudem zum Symbol der Unterdrückung des arbeitenden Menschen wurde, hatte der Vergleich des Staates mit der Maschine endgültig seine Harmlosigkeit verloren.Der amerikanische Kulturhistoriker Lewis Mumford hat versucht, die Geschichte der Menschenrechte unter Zuhilfenahme jenes Vergleichs zu deuten. Die Frage, wie es bereits im Altertum ohne den Einsatz von Maschinen zu technischen Hochleistungen wie dem Bau von Pyramiden und riesigen Bewässerungsanlagen kommen konnte, beantwortete er mit dem Hinweis auf das Vorhandensein von »Menschenmaschinen«, das heißt von großen Menschenmassen, die mit strengster Disziplin dirigiert wurden. Die Despotien des frühen Altertums mit ihren unvorstellbar grausamen, Menschen verachtenden Praktiken seien nichts anderes als solche Menschenmaschinen gewesen. In der Spätantike und im Mittelalter sei die Erinnerung hieran allmählich verblasst. In der Neuzeit aber sei im Laufe mehrerer Jahrhunderte, und deshalb kaum bemerkt, erneut eine gewaltige Menschenmaschine konstruiert worden: der moderne Staat. Gegen ihn richtete sich naturgemäß die Forderung der Philosophen, Menschenrechte als subjektive öffentliche Rechte des Einzelnen verfassungsmäßig zu verbriefen, damit jeder Einzelne über eine »staatsfreie Sphäre« zur Entfaltung seiner Persönlichkeit verfüge. Die Menschenrechte sollten gleichsam der Zaun sein, der diese staatsfreie Sphäre vor Übergriffen des Staates zu schützen hatte. Deshalb erhielten diese »klassischen Freiheitsrechte« die Bezeichnung status negativus.Der Kampf um diese Kategorie von Menschenrechten war zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen gewonnen. Gleichzeitig begann in einer zweiten Phase das Ringen um die Grundrechte des status activus, das sind die Rechte des Einzelnen auf Mitwirkung bei der politischen Willensbildung im Staat, deren Kern das aktive und passive Wahlrecht bildeten. Dieses Ringen endete in Europa erst im Laufe des 20. Jahrhunderts mit der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts auch für Frauen. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte in den Industriestaaten der Kampf um die dritte Gruppe von Menschenrechten begonnen, nämlich die Grundrechte des status positivus, mithin die Rechte des Einzelnen auf positive Leistungen des Staates, die im Begriff des Sozialstaats zusammengefasst werden. Das Ringen um sie ist bis heute nicht abgeschlossen. Gleichzeitig zeichnen sich aber auch neue Gefährdungen der Freiheitsrechte ab, sodass die Überlegungen der Philosophen der Aufklärungszeit, die am Beginn der Entwicklung jener Kategorie von Menschenrechten standen, erneut aktuell geworden sind.Das 18. Jahrhundert: Anspruch auf Universalität und Verankerung in VerfassungenDie Bedeutung der Philosophie der Aufklärung für die Geschichte der Menschenrechte ist unbestritten. Alle früheren philosophischen Ansätze — von der Naturrechtslehre der Sophisten in der Antike bis zur spätmittelalterlichen Scholastik — werden dadurch nicht abgewertet. Wie bereits Felix Ermacora konstatierte, bleibt es aber eine Tatsache, dass im Zeitalter der Aufklärung die Menschenrechte »zuerst den Anschein von umfassender Effektivität und Universalität erreicht haben. Nicht, dass die Wissenschaft nicht schon vorher die Existenz von einzelnen Menschenrechten und Grundfreiheiten zu beweisen sucht; aber diese wurden zu dem, was sie heute sind, durch die Herauslösung des Menschen aus dem mittelalterlichen Weltbild, durch die Lösung der Staaten von bestimmten Kirchen und durch die kraft der Laisierungen des Einzelnen bewirkte, nunmehr isolierte Konfrontierung des Menschen mit der Allgewalt des Staates und den Gewalten gesellschaftlicher Gruppen«.Die oft als erstes menschenrechtliches Dokument bezeichnete Magna Charta von 1215 verkündete keineswegs die allgemeinen Menschenrechte, sondern schützte im Wesentlichen eine bestimm- te Schicht, die Barone, gegen den Rechtsmissbrauch durch ihren Feudalherren, den englischen König. Die dort verbrieften Rechte fügten sich noch ganz in das System des mittelalterlichen Personenstaatsverbandes ein. Diese Einschränkung soll indes Englands Beitrag nicht schmälern: Im 16. und 17. Jahrhundert finden sich dort einige Philosophen, die als Vorläufer und Wegbereiter der Aufklärung die naturrechtliche Idee der Menschenrechte propagierten. Zu ihnen gehören John Milton und John Locke. Auf der Grundlage des Calvinismus traten sie für die Selbstbestimmung des Menschen ein und plädierten für eine staatsfreie Sphäre. Es ist kein Zufall, dass der eigentliche Begründer derjenigen Freiheitstheorie, die später in die utilitaristische Formel »Leben, Freiheit und Streben nach Glück« — gleichsam als »Urmenschenrechte« in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung festgehalten — mündete, John Locke, sein Hauptwerk »Über die Regierung« kurz nach der »Glorreichen Revolution« von 1688/89 veröffentlichte, in deren Folge erstmals ein englischer König vor seiner Thronerhebung einen Grundrechtskatalog unterschreiben musste.Aber schon im darauf folgenden Jahrhundert bildeten Nordamerika und Frankreich die Schwerpunkte des Ringens um die Menschenrechte. In der Geschichtswissenschaft herrscht noch immer Uneinigkeit darüber, welchem der beiden Länder der Vorrang gebührt. Einer der Altmeister der deutschen Staatslehre, Georg Jellinek (1851—1911), vertrat dezidiert, dass die Naturrechtslehre allein das System der Menschen- und Bürgerrechte nicht geschaffen hat und dass nicht die Französische Revolution mit ihren Vorläufern, sondern die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung den eigentlichen Anfang für die Umsetzung der Menschenrechtsidee in die politische Praxis darstellt. Tatsächlich ist der erste verfassungsrechtliche Grundrechtskatalog in der Verfassung des Staates Virginia aus dem Jahre 1776 enthalten. Diese Verfassung stammt von Thomas Jefferson, dem Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Sie beginnt mit dem Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten, die dem Einzelnen von seinem Schöpfer gegeben worden sind, und bekräftigt die berühmte Dreiheit der Urmenschenrechte »Leben«, »Freiheit« und »Streben nach Glück«. Virginia war aber keineswegs die einzige Kolonie, die damals einen Grundrechtskatalog (Bill of Rights) verkündete. Die Bills of Rights waren zugleich Rechtsinstrumente im Kampf um die Unabhängigkeit von England. Die Vorkämpfer dieser Unabhängigkeit, darunter vor allem die Juristen James Otis und Alexander Hamilton, versuchten zunächst, die Rechte der amerikanischen Kolonisten aus der englischen Verfassung abzuleiten. Als dies nicht gelang, übernahmen sie die im englischen Recht begründeten civil liberties (bürgerliche Freiheiten) und erklärten sie zu human rights (Menschenrechte), die unabhängig von der englischen Verfassung gelten. Auf dieser Grundlage verkündete 1776 der in Philadelphia versammelte Kongress von Politikern der 13 amerikanischen Kolonien die Unabhängigkeitserklärung. Nichtsdestoweniger enthielt die 1787 verkündete Bundesverfassung noch keinen Grundrechtskatalog. Eine derartige Ergänzung gelang erst vier Jahre später, indem 10 Zusatzartikel aufgenommen wurden, die später abermals erweitert wurden.Die Verbindungen zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution sind wechselseitig. Zwar brach die Französische Revolution später aus als der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, aber ihre philosophische Vorbereitung hatte ein gutes Menschenalter vorher begonnen. Die amerikanischen Juristen verwendeten die Argumente der französischen Philosophen, als sie die englischen Bürgerrechte in allgemeine Menschenrechte ummünzten. Freiheitsliebende Franzosen kämpften aufseiten der amerikanischen Kolonisten und stürzten sich, erfüllt von den Idealen der Unabhängigkeit nach Frankreich zurückgekehrt, mutig in die Revolution.Die französische Menschenrechtsphilosophie hatte eine eigene Tradition in der Aufklärung. Das Hauptproblem Montesquieus war die Sicherung der Bürgerrechte durch eine entsprechende Staatsorganisation. Aber er betonte auch, dass der Mensch wichtiger sei als der Bürger. »Die Pflicht, die man als Bürger erfüllt, ist Verbrechen, lässt sie uns die Pflicht vergessen, die man als Mensch hat.« Jean-Jacques Rousseau versuchte das Problem der staatsfreien Sphäre anders zu lösen: Durch den Gesellschaftsvertrag gibt der Einzelne seine natürliche Freiheit auf, um die bürgerliche Freiheit zu gewinnen. Sein individueller Wille wird vom Gemeinwillen, den er letztlich als seinen wahren Willen erkennt, aufgesogen. Diese Argumentation hat später auch Vertreter totalitärer Ideen dazu verleitet, sich auf Rousseau zu berufen.Die tatsächliche Entwicklung in Frankreich ging andere Wege. Einer der Vorkämpfer der Revolution, Graf Mirabeau, erhob bereits im Jahre 1770 die Forderung nach Anerkennung von Menschenrechten, die er droits fondamentaux (Grundrechte) nannte. Seit dieser Zeit werden in der Philosophie die Begriffe Grundrechte und Menschenrechte häufig synonym gebraucht. Die Rechtssprache unterscheidet sie allerdings: Grundrechte sind die in Verfassungen verbrieften subjektiven öffentlichen Rechte. Sofern sie nicht auf Staatsbürger beschränkt sind — wie etwa das aktive und passive Wahlrecht —, sind sie zugleich Menschenrechte, die allen Menschen im Geltungsbereich der betreffenden Verfassung zustehen. Auf der Ebene des Völkerrechts entfällt die Beschränkung auf den Geltungsbereich einzelner Verfassungen.Nach Ausbruch der Französischen Revolution 1789 wurde Mirabeaus Gedanke alsbald zum Programm erhoben: Am 26. August 1789 verkündete die französische Nationalversammlung feierlich die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ähnlich wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht sie von »natürlichen und unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechten«, deren Erhaltung der »Endzweck aller politischen Vereinigungen« sei. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde in die Verfassung vom 3. September 1791 aufgenommen. In der Verfassung vom 24. Juni 1793 nahmen die Menschenrechtsartikel einen noch größeren Raum ein, während die dritte Revolutionsverfassung vom 22. August 1795 von vier »Rechten des Menschen innerhalb der Gesellschaft« sprach: Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum; daneben setzte sie auch Pflichten des Bürgers.Nach der Überwindung der Revolution durch Napoleon wurde die Revolutionsverfassung außer Kraft gesetzt. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aber wirkte fort und befruchtete die gesamte liberale Verfassungstradition, in die auch der Grundrechtskatalog der deutschen Reichsverfassung vom 28. März 1849 einzuordnen ist. Da die Revolution von 1848/49 scheiterte, trat er niemals in Kraft. Doch knüpfte die Staatsrechtslehre bei der Interpretation der Grundrechtskataloge der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und des Bonner Grundgesetzes von 1949 an die in ihm zum Ausdruck gekommenen Ideen an.Prof. Dr. Otto KimminichGrundlegende Informationen finden Sie unter:Aufklärung: Sieg der Vernunft?Barthel, Armin: Die Menschenrechte der dritten Generation. Aachen 1991.Ermacora, Felix: Menschenrechte in der sich wandelnden Welt. Wien 1974 ff. Erscheint unregelmäßig.Fitzpatrick, Joan: Human rights in crisis. The international system for protecting rights during states of emergency. Philadelphia, Pa., 1994.Hanz, Martin: Zur völkerrechtlichen Aktivlegitimation zum Schutze der Menschenrechte. München 1985.Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre. Berlin 1900.Kimminich, Otto: Menschenrechte. Versagen und Hoffung. München u. a. 1973.Menschenrechte. Eine Sammlung internationaler Dokumente zum Menschenrechtsschutz, herausgegeben von Christian Tomuschat. Bonn 1992.Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen - säkulare Gestalt - christliches Verständnis, herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde und Robert Spaemann. Stuttgart 1987.
Universal-Lexikon. 2012.